Doomsday-Clock: 89 Sekunden vor Mitternacht

„Die Welt, so wie wir sie geschaffen haben, ist das Ergebnis unseres Denkens. Sie kann deshalb nicht geändert werden, ohne unser Denken zu ändern.”

Albert Einstein.

Die sogenannte Weltuntergangsuhr wurde vor wenigen Stunden auf 89 Sekunden vor Mitternacht gesetzt, so nah wie nie zuvor am Tageswechsel.

Das Jahr 2024 hat uns erneut vor Augen geführt, mit welchen Krisen die Menschheit konfrontiert ist. Kriege, nukleare Risiken, Klimawandel und Naturkatastrophen, Pandemien und disruptive Technologien beeinträchtigen das gute Zusammenleben der Menschen weltweit.

Jedes Jahr im Januar entscheiden Experten des „Bulletin of the Atomic Scientists“, ob die Ereignisse des Vorjahres die Menschheit näher an die Zerstörung herangeführt haben oder nicht. Die Uhr „zeigt, wie nahe wir der Zerstörung unserer Zivilisation durch gefährliche, von uns selbst geschaffene Technologien sind“, so die Verantwortlichen.

Ursprünglich sollte die Weltuntergangsuhr zeigen, wie nahe wir an der Zerstörung der Welt durch einen Atomkrieg sind. Die Gründe für die Einstellung haben sich in den letzten Jahren berechtigterweise erweitert. Neben der atomaren Gefahr, durch eine Zunahme der weltweiten nuklearen einsatzfähigen Kapazitäten, kamen in den letzten Jahren der Klimawandel, die anhalten weltweiten Kriege, die Entwicklung bahnbrechender Technologien, die rasant zunehmenden Fehl- und Desinformationen (Fake news), wie der rasante Aufstieg der Künstlichen Intelligenz oder hochentwickelter Gentechnologien hinzu.

Das renommierte „Bulletin of the Atomic Scientists“ wurde 1945 von Albert Einstein und Wissenschaftlern der University of Chicago gegründet, die an der Entwicklung der ersten Atomwaffen im Rahmen des Manhattan-Projekts beteiligt waren. Zwei Jahre später schuf das „Bulletin“ die Doomsday Clock, die die Bilder der Apokalypse (Mitternacht) und die Redewendung einer nuklearen Explosion (Countdown bis Null) verwendet, um die Bedrohung der Menschheit und des Planeten zu verdeutlichen.

Interessant ist folgender Vergleich bei der symbolischen Uhreinstellung: Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1990, dem Ende des sogenannten Kalten Krieges und dem Beginn umfassender nuklearer Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russlands, wurde die Uhr 1991 auf 17 Minuten vor Mitternacht eingestellt. Für das Fachblatt war es seit Beginn des Atomzeitalters zu dieser Zeit nie sicherer auf unserer Erde.

Das Ziel der Uhr ist es nicht, Angst zu schüren, sondern sie dient als Aufruf zum Handeln, um Lösungen für die dringendsten, vom Menschen verursachten existenziellen Bedrohungen der Welt zu finden, damit die Zeiger der Uhr von Mitternacht wegbewegt werden können.

Neben der diesjährigen Uhreinstellung, beschreibt auch das World Economic Forum (WEF), in ihrem vor wenigen Tagen publizierten jährlichen Risikobericht, die allgemeine Lage der Dinge in den aktuellen, 2- und 10-Jahresprognosen als „Trübe“. Wahrlich kein ermunterndes Zeichen der Wirtschaftskapitäne.

Die Einschätzungen des WEF und die Uhreinstellung für 2025 zeigen, dass die politisch Verantwortlichen der Welt jetzt handeln müssen, denn wir erreichen Kipppunkte, von denen es kein Zurück mehr gibt.

Es ist schon erstaunlich mit welcher Gelassenheit unsere Gesellschaft mit den seitens der Doomsday-Clock und des WEF projizierten Gefahren umgeht. In der breiten Öffentlichkeit ist der Klimawandel längst nicht mehr auf den oberen Plätzen der zu lösenden Probleme zu finden; der horrende Biodiversitätsverlust eigentlich kein wichtiges Thema; allgemein wird der Aufrüstung Priorität eingeräumt; von einer breiten öffentlichen Debatte über Künstliche Intelligenz und hochentwickelter Gentechnologie sind wir weit entfernt.

Ohne die einzelnen Risiken in ihrer Dringlichkeit bewerten zu wollen, gibt es doch das Zitat von Willy Brandt, dessen Kerngedanke von Bedeutung bleibt: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Insbesondere überrascht seit dem Beginn des völkerrechtwidrigen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, mit welcher Verharmlosung die immer grösser werdende Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen oft kommentiert wird. Dies ist eine grobe Fehleinschätzung.

Mit der vor wenigen Wochen stattgefundenen Friedensnobelpreisehrung von Nihon Hidankyo, eine japanische Friedensorganisation, die sich gegen die nukleare Aufrüstung in der Welt einsetzt, sendete das Nobelpreiskomitee ein klares Zeichen. Nihon Hidankyo versteht sich als eine Organisation der Überlebenden (Hibakusha) der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Das Nobelkomitee richtete bewusst die Aufmerksamkeit auf den 80. Jahrestag der Atombombenabwürfe, ein wichtiger Zeitpunkt, um die Öffentlichkeit auf die ernste und wachsende Bedrohung aufmerksam zu machen, die Atomwaffen für die Menschheit und unseren Planeten darstellen.

Nihon Hidankyo hat das Schweigen gebrochen und über das Grauen gesprochen. Die Organisation hilft uns, das Unbeschreibliche zu beschreiben, das Undenkbare zu denken und den unfassbaren Schmerz und das Leid zu verstehen, die durch Atomwaffen verursacht werden.

Die Auszeichnung unterstreicht auch einen ermutigenden Meilenstein: Seit dem letzten Einsatz von Atomwaffen im Krieg sind fast 80 Jahre vergangen. Die außerordentlichen Bemühungen von Nihon Hidankyo und Friedensnobelpreisträgern wie beispielsweise ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons), IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), Pugwash-Konferenzen (Pugwash Conferences on Science and World Affairs) hatten dazu beigetragen, ein „Atomtabu“ zu etablieren. Dieses Tabu steht heute jedoch unter Druck. Wieder einmal werden die Trommeln für einen Atomkrieg gerührt.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat der Kreml wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, sollte sich der russische Staat durch vom Westen gelieferte Waffen in seiner Existenz bedroht fühlen. Vor kurzem hat Putin die russische Nukleardoktrin überarbeitet und angeblich die Schwelle für den Ersteinsatz gesenkt.

Vor einigen Wochen wurde uns diese Gefahr erneut vor Augen geführt. Die nukleare Bedrohung ist kein Relikt des Kalten Krieges, sie ist eine klare und gegenwärtige Gefahr. Russland hat eine neue ballistische Rakete mit mittlerer Reichweite auf Dnipro abgeschossen. Obwohl es sich bei dem Angriff auf Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, um eine Waffe mit nichtnuklearen Sprengköpfen handelte, unterstreicht dieser Einsatz eines für Atomwaffen konzipierten Trägersystems die allgegenwärtige Gefahr.

Die geopolitischen Spannungen sind so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Atommächte modernisieren seit einiger Zeit ihre Arsenale. Zu diesen Mächten gehören die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China, aber auch Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel.

Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) gehen die weltweiten Atomwaffenbestände zurück, da die USA und Russland ältere Sprengköpfe aus der Ära des Kalten Krieges abbauen, doch die Zahl der einsatzbereiten Sprengköpfe steigt, ein beunruhigender Trend.

Das SIPRI schätzt die weltweiten Bestände auf 12.121 nukleare Sprengköpfe, von denen sich etwa 9.585 in militärischen Lagern befinden und 3.904 auf Raketen und Flugzeugen eingesetzt werden: 60 mehr als im letzten Jahr. Diese nackte Realität unterstreicht, warum die Abschaffung von Atomwaffen die höchste Abrüstungspriorität der Vereinten Nationen bleibt. Hierfür bedarf es aber dringend neuer atomarer Abrüstungsverträge, denn zurzeit gibt es so gut wie keine Rüstungskontrolle mehr.

Wir sollten uns bewusst wieder daran erinnern, was Atomwaffen darstellen: Eine Waffe mit einer solch zerstörerischen Kraft, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Die heutigen Atomwaffen übertreffen bei weitem die Kraft der auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben. Ihre Erprobung und ihr Einsatz würden katastrophale humanitäre Folgen haben, wie das Internationale Rote Kreuz betont: „Atomwaffen können die medizinische Infrastruktur und die medizinischen Dienste zerstören, was die Bereitstellung von Hilfe und Unterstützung nahezu unmöglich macht und zeigt, dass die humanitären Hilfskapazitäten in der unmittelbaren Folgezeit nicht ausreichen.“

Die Botschaft von Terumi Tanaka, dem Ko-Vorsitzenden von Nihon Hidankyo, der als 13-Jähriger den Bombenangriff auf Hiroshima überlebte, in seiner Nobelpreisrede im Dezember war eindeutig:

„Es ist der innige Wunsch der Hibakusha, dass wir, anstatt uns auf die Theorie der nuklearen Abschreckung zu verlassen, die den Besitz und den Einsatz von Atomwaffen voraussetzt, den Besitz einer einzigen Atomwaffe nicht zulassen dürfen. […] Ich plädiere daher dafür, dass alle Menschen auf der Welt gemeinsam darüber diskutieren, was wir tun müssen, um Atomwaffen abzuschaffen, und von den Regierungen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels fordern.“

„Wir leben derzeit in einer der gefährlichsten Zeiten in der Geschichte der Menschheit“, erklärte der Vorsitzende des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI Dan Smith. „Es ist an der Zeit für die Großmächte, einen Schritt zurückzutreten und nachzudenken. Am besten gemeinsam.“

Raymond Becker
Koordinationsteam der Friddens- a Solidaritéitsplattform

© Photo : Mark Schiefelbein / AP