„Es braucht Mut!“

Laudatio Vivi Hommel Präis 2020
Lëtzebuerg 12.10.
Centre Convict – Erwuessebildung
Raymond Becker
Präsident des Cercle de Réflexion et d’Initiative Vivi Hommel asbl

Werte Gäste,

Liebe Laureatin,

liebe Blanche Weber,

„Wenn ihr euren Weg im Leben geht, hinterlasst Spuren. So wie andere vor euch den Weg für euch bereitet haben, so sollt ihr jenen helfen die euch nachfolgen. Tut euren Teil dazu, die Gesellschaft so zu verändern, wie sie in euren Augen sein sollte, zum Wohle der Generationen, die nach euch kommen.“

Ruth Bader Ginsburg Baccalaureate-Ansprache an der Brown University Mai 2002.

Warum dieses Zitat am Anfang meiner Laudatio?

Spuren hinterlassen, unsere Gesellschaft zum Besseren verändern – ich bin überzeugt, dass diese Merkmale sowohl auf “unsere” Vivi als auch auf unsere diesjährige Laureatin zutreffen.

Dies ist nicht selbstverständlich in einer Zeit, in welcher wir global auf Messers Schneide stehen:

  • Ressourcenverbrauch, Klimawandel, Plastikschock, Artensterben, Biodiversitätsverlust.
  • Rassismus, Terrorismus, Gewalt, Krieg und daraus resultierende Flüchtlingskrise.
  • Zunehmender Nationalismus, ungerechte Handelsabkommen, weltweit soziale Probleme, Rüstungswahn – Ergebnisse des entfesselten Kapitalismus.
  • Förmliche Auflösung internationaler Institutionen, implodieren der Debattenkultur durch Fake-News, Cybermobbing und erschreckenden Alltags-Hass.

Und zu alle dem, jetzt auch noch eine Pandemie, welche einmal mehr schonungslos die Defizite der Gesundheitssysteme aufdeckt. Eine Pandemie, die nach Berechnungen der Weltbank 150 Millionen Menschen in extreme Armut treibt.

Ein sozio-ökonomischer Skandal, da bereits Heiner Geissler feststellte, dass es “Geld wie Dreck gibt, es nur die falschen Leute haben“.

Noam Chomsky warnte davor, dass sich die Welt aufgrund der Klimakrise, der Gefahr eines Atomkriegs und der Zunahme des Autoritarismus im gefährlichsten Moment der Menschheitsgeschichte befindet. In einem rezenten Gespräch mit der britischen Wochenzeitung „New Statesman“ sagte der amerikanische Linguist und Aktivist, dass die heutigen Gefahren, die der 1930er Jahre übertreffen.

All dies macht auch nicht vor Luxemburg halt; wir sind keine autarke Insel im Herzen Europas. Wir sind ein Teil von Institutionen wie der Europäische Union, der NATO, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Vereinte Nationen, der Welthandelsorganisation (WTO), des Europarat – um nur diese zu nennen.

Hier tragen wir die Verantwortung, ja sogar die Pflicht, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern – dieser Anforderung werden wir wahrlich nicht immer gerecht.

Wir tun uns in unserer heutigen Politikgestaltung hierzulande sichtlich schwer. Ein Beispiel ist das Spannungsfeld Ökonomie-Ökologie. Wohnungsbau, Armut und soziale Gerechtigkeit – all dies müsste ganz oben auf unserer nationalen Agenda stehen.

Ein weiteres, plakatives Beispiel unseres Versagens ist der jährliche “Earth Overshoot-Day” – jener Tag des Jahres an dem die menschliche Nachfrage nach Ressourcen, das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion übersteigt. Dieser ist für Luxemburg 2020 am 16. Februar, ein beschämender zweiter Platz, nur knapp hinter Qatar. Wir leben somit seit Mitte Februar auf Kosten kommender Generationen.

Abgesehen von den wenigen, immergleichen, interessiert es hierzulande niemanden bei der jährlichen Ankündigung. Anstatt zu revidieren lässt sich die Konsumgesellschaft immer wieder Ausreden einfallen: Man verbrauche schließlich hierzulande nicht all das Benzin was verkauft würde. – Diese ewige Pathologie ist das zentrale, desaströse Problem, welches wir bekämpfen müssen.

Der nationale Nachhaltigkeitsrat will in den kommenden Monaten unseren ökologischen Fußabdruck genauer unter die Lupe nehmen. Der Rat plädiert bereits jetzt für alternative Konsumgewohnheiten und will notwendige politische Entscheidungen diskutieren.

Es ist unerträglich zu wissen, dass falls die gesamte Menschheit so wie wir im Lande Luxemburg mit dem Raubbau unserer Ressourcen umgehen, wir 8 Erden bräuchten. Dies ist der zentrale Punkt: wir müssen nicht nur diskutieren, wir müssen handeln.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte Papst Franziskus seine dritte Enzyklika „Fratelli tutti“. Egal wie man zur katholischen Kirche, zum Glauben oder zum Papst steht; die Inhalte von „Fratelli tutti“ gehören in die öffentliche Debatte. „Fratelli Tutti“ ist ein kapitalismus- und gesellschaftskritischer Aufruf.

Ein Zitat: „Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht.“

Der kanadische Philosoph und Politikwissenschaftler, Charles Taylor, betitelt den Kapitalismus als „faustischen Pakt“ und schreibt: „Ohne wirtschaftliche Entwicklung können wir nicht leben. Aber gleichzeitig droht die entfesselte Ökonomie, unsere ökologischen und kulturellen Grundlagen zu zerstören.“

Wir versprechen sinngemäß dem Kapitalismus unsere Seele, im eigennützigen Tausch gegen unseren Konsumrausch.

Diesen Teufelspakt müssen wir durchbrechen, denn nur so können wir eine bessere Zukunft anstreben.

Der Soziologe Wolfgang Streek weist in seiner Analyse auf das Phänomen des „Coping, Hoping, Doping, Shopping“ hin – also das sich arrangieren, aufputschen, hoffen und konsumieren. Wir haben die Anforderungen des ökonomischen Systems verinnerlicht, so Streek. Es ist keinerlei Druck nötig, denn ständige Verfügbarkeit und Fitness sind längst selbstverständliche Werte der Leistungseliten.

Der Konsum von Drogen steigt rapide, nicht mehr, um sich zu betäuben, sondern um leistungsfähiger zu sein – man passt sich an und verfällt nicht zuletzt dem Konsumrausch.

Wenn ich mir die Gesellschaft so ansehe, fällt es schwer zu glauben, wir hätten in Covid-19-Zeiten wesentliches hinzugelernt.

In Berthold Brechts „Dreigroschenoper“ aus dem Jahre 1928, gibt es die Ballade über die Frage „Wovon lebt der Mensch“. Es gibt das bekannte Zitat „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Auf die Frage von Jenny (Spelunken-Jenny): „Denn wovon lebt der Mensch?“ antwortet Macheath besser bekannt als Mackie Messer: „Indem er stündlich, den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. Nur dadurch lebt der Mensch, Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.“ – Dieser radikale Gedanke der Idee „Ich konsumiere also bin ich“, zeigt einmal mehr die Perversion unserer kapitalistischen Gesellschaft.

Vor wenigen Tagen erst, las ich die Rede des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, welche er vor 2 Monaten anlässlich der Trauerfeier des großen amerikanischen Bürgerrechtlers John Lewis hielt: „Bei unserer Geburt gab man uns einen Auftrag: Unsere Gemeinschaft zu einer noch besseren zu machen. In diesen Worten schwingt immer auch der Gedanke mit, dass wir nicht perfekt sind; dass jede neue Generation mit dem Ziel antritt, die unvollendete Arbeit der Vorangegangenen aufzunehmen und sie weiter zu bringen, als irgendjemand es sich hätte vorstellen können.“

Die für mich großartige Rede stand unter dem Leitgedanken „Es braucht Mut“ – denn:

  • Ja, es braucht Mut „gegen den Strom zu schwimmen“;
  • Ja, es braucht Mut, um Neues zu schaffen, denn um es mit dem unvergessenen Stéphane Hessel zu formulieren: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“;
  • Ja, es braucht Mut sich für seine und ich sage bewusst Utopien einzusetzen;
  • Ja, es braucht Mut und Standfestigkeit Menschen immer wieder zu motivieren;
  • Ja, es braucht Mut gerade jetzt den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern gegen Fatalismus und Pessimismus anzugehen;
  • Ja, es braucht Mut, um zu vermitteln, dass wir schnell kollektiv handeln müssen, denn nur mit unserem Mut haben zukünftige Generationen noch die Chance auf eine bessere Welt.

Eine Demokratie lebt und überlebt nur wenn mutige Bürgerinnen und Bürger sich angesichts derart skandalöser Zustände, konstant einen wachen Widerstandsgeist behalten und weiterentwickeln – denn wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.

In diesem Sinne sind wir als Cercle Vivi Hommel davon überzeugt, mit der Wahl unserer diesjährigen Laureatin nicht nur Nägel mit Köpfen gemacht zu haben, sondern redensartlich auch den Nagel auf den Kopf getroffen haben.