„Ou Topos“

Zugegeben, ich war etwas irritiert über die Anfrage meines langjährigen Freundes Michel, ein Zeugnis für sein drittes Buch zu verfassen. Irritiert weniger über die Anfrage, eher irritiert über das Thema was er mir vorgab: Liebe.

Michels Bücher „Christ sein mit Zorn und Zärtlichkeit“ und „Christ und Sozialist – Von 1789 bis heute“ haben einen festen Platz in meinem Bücherregal und so wurde mir schnell klar, wo seine Überlegung bei der Anfrage lag. Beim Thema Nächstenliebe.

Ein Zitat von Ernesto „Che“ Guevara passt eigentlich perfekt: „Um etwas zu tun, muss man es sehr lieben. Um etwas sehr zu lieben, muss man bis zur Verrücktheit daran glauben.“

Nächstenliebe steht in engem Zusammenhang mit Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Freiheit. Insgesamt gesehen, bilden diese Werte die Wurzeln unserer Demokratie.

Wie steht es heute um die Nächstenliebe in unserer Gesellschaft. Sind wir überhaupt noch fähig zu Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Freiheit?

Brisante und aktuelle Thesen wurden im Jahre 1994 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Toblacher Gespräche“ zum Thema „Ökologischer Wohlstand statt Wachstumsträume“ formuliert. Sie sind aktuelle denn je, sie haben einen direkten Bezug zur Nächstenliebe:

„Am Ende dieses Jahrhunderts sind wir mit neuen Wahrheiten konfrontiert:

Die Wahrheit über uns: Sparen

Die Wahrheit über die Natur: Uns begrenzen

Die Wahrheit über unser Verhältnis zur dritten Welt: Abgeben

Die Wahrheit über die zukünftigen Generationen: Teilen“

Sind wir in einer immer verrückteren Konsumgesellschaft dazu überhaupt fähig, zu sparen, uns zu begrenzen?

Um unseren Lebensstil garantieren zu können, „beschäftigt“ jeder von uns weltweit im Durchschnitt 60 „Sklaven“. Sind wir bereit abzugeben, zu teilen?

„Ou Topos“, können wir nur träumen von einem Ort, den es nicht gibt oder gar geben kann? Sind die Visionen eines Thomas More, seine Schilderung einer idealen Gesellschaft aus dem Jahre 1516, reine Utopie?

Sein „Utopia“, die Urschrift vom Traum eines besseren Lebens, war als radikale Kritik und Weckruf an eine erstarrte Gesellschaft gedacht. Dinge anders denken und angehen, das Schaffen einer besseren und gerechteren Gesellschaft waren die Botschaften seines Werkes. In seiner Gesellschaftskritik schrieb More von Großinvestoren und Monopolen, von Land-Grabbing und Klassenjustiz. Er schildert den Frühkapitalismus als Komplott aus Geld und Politik, die gierig nach Macht strebenden Fürsten beschäftigen sich laut More „lieber mit militärischen Dingen als mit den heilsamen Künsten des Friedens“.

Stehen wir heute nicht in einer ähnlichen Situation wie Thomas More sie in der damaligen Gesellschaft vorfand und aufs heftigste kritisierte? Wir leben in einer zerstörerischen Phase der Menschheit, einer Zeit von massiver Naturzerstörung, fortschreitendem Klimawandel, rasantem Artensterben, massiver Aufrüstung, horrenden Kriegen, realer Kriegsgefahr in Europa, irrationalem Konsumwahn, ungelöster Hungerproblematik, steigender Wasserknappheit, undemokratischer Konzernmacht, steigender sozialer Spannungen, Verlust von demokratischen und solidarischen Werten oder steigendem populistischem Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit.

Könnten wir uns heute einer Utopie zubewegen, einem Ort, den es eigentlich geben müsste? Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, zeigt den Weg für eine bessere, gerechtere Gesellschaft.

In der Bibel werden im 6. Kapitel des Johannes, vier apokalyptische Reiter erwähnt. Heutzutage sind diese Reiter Klimakrise, Artensterben, Rüstungswahn und Geldgier. Sie sind Facetten ein und derselben Medaille. Die engagierte Zivilgesellschaft muss vorrangig diese apokalyptischen Reiter zu Fall bringen.

Ein revolutionärer Text, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776: „(…) Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichten Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. (…), dass sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen (…).“ Die Formulierungen wurden stark vom Philosophen Jean-Jacques Rousseau geprägt. Im Gesellschaftsvertrag aus dem Jahre 1762, schreibt Rousseau: „Das persönliche Glück ist das erste Lebensziel aller Menschen. (…) Die einzige Instanz, die es zu beachten gilt, ist die himmlische, unsterbliche Stimme des eigenen Gewissens.“ Das persönliche Glück ohne Nächstenliebe ist Egoismus. Das helfende Handeln und die Rücksichtnahme für andere Menschen, müssten ein wesentlicher Teil des persönlichen Glücks darstellen.

Aimé Césaire war politischer Dichter aus der Martinique, sein Zitat ist aktueller denn je: „Die Stunde unserer selbst ist gekommen.“ Die Stunde unserer selbst, ist die Stunde einer radikal fordernden Zivilgesellschaft. Die Stunde unserer selbst, ist die Stunde, in der sich die Zivilgesellschaft der Nächstenliebe wieder bewusster werden muss.

„Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst umstellen.“ Fjodor Dostojewski

Raymond Becker

(Text erstellt im Juni 2019)

Ende März wird das dritte Buch von Michel Schaack auf dem Büchermarkt erscheinen. Es erzählt von Erlebnissen in seiner Kindheit und Jugend, von abenteuerlichen Reisen in Europa und Südamerika. Der Autor legt dar, welche Bedeutung die Musik in seinem Leben spielt.

Das Buch ist erhältlich frei Haus durch Überweisung von 17€ auf das Postkonto LU41 1111 0364 4065 0000 von Michel Schaack.

Der Autor ist Ehrenpräsident von Niños de la Tierra a.s.b.l (anc. Chiles Kinder).