Schluss mit dem Rumeiern!

Wer die Opfer nicht schreien hören, nicht zucken sehen kann, dem es aber, sobald er außer Seh- und Hörweite ist, gleichgültig ist, dass es schreit und zuckt – der hat wohl Nerven, aber Herz hat er nicht.“

Bertha von Suttner

Das Zitat der Friedensnobelpreisträgerin passt zum aktuellen Rumeiern der Europäischen Union in Sachen Flüchtlingspolitik.

Vor wenigen Tagen, am 20. Juni dem Weltflüchtlingstag 2019, veröffentlichte das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) in ihrem jährlichen „Global-Trends-Report“ traurige Rekorde: Alle zwei Sekunden flieht irgendwo auf der Welt ein Mensch. Das sind pro Tag 43.200 Flüchtlinge. Besonders betroffen sind Kinder, so ist jeder zweite Flüchtling jünger als 18 Jahre und 111.000 Kinder wurden laut UNHCR auf der Flucht von ihren Familien getrennt. Weltweit sind derzeit über 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Zahl hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre verdoppelt. Es ist die höchste Zahl, die jemals seitens der Vereinten Nationen ermittelt wurde. Die Fakten für das Hochkommissariat sind klar: Aus Angst vor Verfolgung, wegen verheerender Kriege und gewalttätiger regionaler Konflikte, aus prekärer Existenznot und wegen der Veränderung des Klimas, haben sie ihre Heimat verlassen. Fast ein Drittel von ihnen befinden sich in Afrika, rund ein Viertel in Europa, ein Fünftel in Asien und dem pazifischen Raum, der Rest im Nahen Osten sowie in Nord- und Südamerika. Fast 4 von 5 Flüchtlingen leben im Nachbarland ihres Heimatstaates. 84 % der Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern.

Beim Schreiben dieser Zeilen, wütet der italienische Populist Salvini in einem Kräftemessen gegen das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“, welches wenige Kilometer vor der Küste Lampedusas mit 42 aus Seenot errettenden Migranten liegt. Am 12. Juni hatte das Rettungsschiff 53 Menschen aus Seenot gerettet. Einige von ihnen wurden mittlerweile als medizinische Notfälle von Bord gebracht. Seit über 14 Tagen versucht nun die Kapitänin des Schiffes, Carola Rackete, die Männer, Frauen und Kinder, die der Hölle aus Libyen entflohen sind, in einem Hafen in Sicherheit zu bringen. Dies wird verweigert. Die Hilfestellung seitens Organisationen wie „Sea.Watch“ wird in vielen EU-Staaten kriminalisiert, als Bruch von Gesetzen gegeißelt, so wie sich Österreichs Kanzler Kurz ausdrückt.

Pia Klemp war als Kapitänin auf der Iuventa und der Seawatch im Mittelmeer für die Rettung von Flüchtlingen im Einsatz. Mit einem beklemmenden Statement beschreibt sie die Situation: „Die EU setzt seit Jahren auf Migrationsabwehr, sie lässt Menschen wissentlich ertrinken, macht Flüchtlinge und Migranten zu Illegalen, blockiert die zivile Seenotrettung und finanziert stattdessen lybische Milizen die in unserem Namen Menschen in ein Bürgerkriegsland verschleppen, wo ihnen Vergewaltigung, Folter und Tod drohen. Das ist die Realität, die Normalität europäischer Außengrenzen. Als Folge der gezielten Abschottungsstrategie bleibt das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt.“ Die Vereinten Nationen stellen fest, dass zwischen Libyen und Europa bisher jeder 15. Flüchtling und Migrant den Überquerungsversuch mit dem Leben bezahlte.

Es ist erschreckend und beschämend wie in vielen Ländern Europas die Themensetzung der rechten Populisten aufgenommen wird und so am Verhandlungstisch tödliche Abschottungsmaßnahmen entwickelt werden und die Krisenverantwortlichkeit den Geflüchteten zugeschoben wird.
Es findet eine zunehmende Militarisierung der Migrationspolitik Europas statt. Menschenfeindliche Grenzzäune werden hochgezogen, Europa hat sich damit nach über 25 Jahren für einen neuen, modernen und hochtechnisierten Eisernen Vorhang entschieden.

2012 wurde der Europäischen Union der Friedensnobelpreis verliehen. Die Begründung hierfür lag in der stabilisierenden Rolle bei der Umwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege, zu einem Kontinent des Friedens. Das Nobelkomitee führte aus, dass die größte Errungenschaft der EU „ihr erfolgreicher Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte“ sei. Wo schliddert der Friedensnobelpreisträger 7 Jahre später hin? Die Friedensnobelpreisträgerin EU, muss sich für ihre Flüchtlingspolitik schämen.

Völkerrecht, Humanität und Menschenrechte spielen für viele EU-Mitgliedsländer keine Rolle mehr. Humanitäre Hilfe wird kriminalisiert. Es ist ein Bild des Grauens was sich im Mittelmeer und in Ländern wie Niger, Tschad und Libyen bietet: Tod, Vergewaltigung, Folter, Mord oder Menschenhandel. Viele interessieren die Toten im Mittelmeer nicht, sie sind herzlos gegenüber dem Fakt, dass momentan mehr Menschen auf der Flucht in der Wüste Afrikas sterben als im Mittelmeer. Europa zieht seine Grenze mitten durch Afrika, ein Bollwerk bewacht von dubiosen hochgerüsteten Regimen, die mit Humanität und Menschenrechten nichts am Hut haben.

Statt dem Sterben im Mittelmeer politisch entgegenzutreten, werden skrupellose Deals als Erfolg bewertet und zum zentralen Element einer rigorosen Abschottungspolitik in der EU erkoren. In vielen EU-Staaten befeuern Politiker rassistische Ressentiments, um sich als Retter nationaler Interessen zu inszenieren. Diese Politik gefährdet nicht nur Menschen- und Flüchtlingsrechte, sie gefährdet auch den Zusammenhalt der EU.

Eigentlich fanden die Europäer seit der Kolonialzeit nie den Mut, den ausbeuterischen Wirtschaftsakteuren, lokalen und westlichen, den korrupten Machthabern im Nahen und Mittleren Osten, sowie in ganz Afrika, Einhalt zu gebieten. Wir haben uns immer „arrangiert“, weil es unseren Interessen nutzte. Die Menschen in diesen Regionen waren uns egal. Wir haben Sturm gesät und wundern uns, dass wir einen Orkan ernten.
Gerade jetzt, geht es um eine humane und menschenwürdige Flüchtlingspolitik. Es geht darum, dass endlich die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen wirksam beseitigt werden.

Zwei rezente Initiativen müssten eigentlich Grundlage politischer Initiativen in allen nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament werden.
Mit einem sogenannten Oster-Appell für eine europäische Seenotrettung, formulierten 211 Bundestagsabgeordnete in Deutschland 5 prioritäre Ziele: „ 1.) Menschen, die auf hoher See in Seenot geraten, vor dem Ertrinken zu retten, ist ein humanitärer Imperativ, der nicht verhandelbar ist. 2.) Dringend muss ein Aufbau eines europäischen Seenotrettungssystem gewährleistet werden. 3.) Die Europäische Union braucht einen an rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichteten Verteilungsmechanismus von allen aus Seenot geretteten Menschen. 4.) Kommunen, die freiwillig aus Seenot gerettete Menschen aufnehmen wollen, brauchen Unterstützung seitens der Regierung. 5.) Alle Schutzsuchenden in Libyen müssen aus den Internierungslagern freigelassen werden.“

Zum Weltflüchtlingstag veröffentlichten die Organisationen „Neue Richtervereinigung e.V.“ und der „Förderverein PRO ASYL e.V.“ ein Manifest „Menschenrechte sind unteilbar und gelten für alle. Neun Punkte Programm für den Flüchtlingsschutz in Europa“. Die Vereinigungen rufen dazu auf „sich aktiv für Europa und den Flüchtlingsschutz ein zusetzen. Wir lassen nicht zu, dass die aus den Traditionen der Aufklärung, der Entwicklung der Menschenrechte und des Flüchtlingsschutzes hervorgegangene europäische Idee, die zwölf Jahren nach dem Ende der beiden Weltkriege als wirksames Friedensprojekt in Gang gesetzt wurde, durch eine europäische Festung zum Erlöschen gebracht wird.“

Mit dem populistischen Gelaber und dem Rumeiern muss Schluss sein. Wer glaubt mit der aktuellen EU-Kraftmeierei in Sachen Migration würden Probleme gelöst, irrt gewaltig.

Raymond Becker
Mitglied des Koordinationsteams
der Friddens- a Solidaritéitsplattform Lëtzebuerg.